Der Nuthe-Bote September 1992
Unabhängige Monatszeitschrift / Ortsverein Bergholz-Rehbrücke e.V.
Wenn die Gerüchteküche brodelt
Das Sammeln, Verarbeiten und Verbreiten von Gerüchten zählt zu den ältesten Liebhabereien der Menschheit. Wir verdanken diesem Hobby eine Welt von Sagen und Legenden. Ein Gerücht wirkt wie ein Glas Sekt. Erst prickelt es, dann gleitet es wie Balsam in uns hinein, beschwingt unsere Phantasie und perlt in den kühnsten Gedankenkombinationen wieder aus uns heraus. Niemand, auch der ernsthafteste Philister, kann sich dem Reiz eines Gerüchtes ganz entziehen.
Was den Großstädter irritiert, ist dem Landbewohner ein inneres Bedürfnis. Jeder möchte auf seine Weise am Leben der Nachbarn teilnehmen, und alles, was am Ort geschieht, wird in der Gerüchteküche zu einem kuriosen Menü zusammengebraut. Wie so etwas in der Praxis aussieht, mag ein Beispiel aus Bergholz-Rehbrücke zeigen:
Der Sommer 1959 war zwar nicht so eindrucksvoll wie der diesjährige, im Juli gab es aber eine längere Periode extrem hoher Temperaturen. An einem Wochenende brannten plötzlich die Kohlenvorräte im Bunker der Vitaminanstalt. Fast eine Woche lang kämpfen mehrere Feuerwehren mit den Flammen. Zum Glück blieb der Brand auf die Bunker begrenzt, bei der hochsommerlichen Witterung war ein Übergreifen auf andere Gebäudeteile aber durchaus möglich.
Neben dem eigentlichen Brandherd geriet natürlich auch die Gerüchteküche mächtig ins Brodeln. Schließlich kannte niemand die Ursachen, und auch der Presse war damals nicht viel zu entnehmen. Negative Ereignisse im sozialistischen Lager waren - wenigstens aus der Sicht der Zensoren - sehr unpopulär.
Der Brand war in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag entdeckt worden. Am Sonntag, als noch nicht einmal alle Rehbrücker etwas davon wußten, berichteten in Potsdam völlig unbeteiligte Personen bereits Einzelheiten über die Brandursachen.
Am Montag morgen wurde einem Wissenschaftlichen Mitarbeiter des lnstituts, der sich gerade auf einer Dienstreise in Stralsund befand, beim Frühstück im Hotel beiläufig erzählt, in Rehbrücke sei die Vitaminanstalt abgebrannt.
Besonders interessant sind natürlich die Gerüchte, die im Ort selbst kursierten. Einerseits entsprangen sie dem Sensationsbedürfnis der Menschen, andererseits spiegelt sich in ihnen die Meinung der Einwohner über die Tätigkeit des Ernährungsinstituts in jener Zeit wieder. Was die vielen Mitarbeiter dort eigentlich machten, war den Bergholzern und Rehbrückern ein Brief mit sieben Siegeln und ist es heute noch.
Besonders beeindruckend und geheimnisvoll war die Verwendung von Ratten zu Versuchszwecken. Eines der ersten Gerüchte war denn auch die Schreckensmeldung, die Ratten seien ausgebrochen. Vieles hätte passieren können, aber das bestimmt nicht. Die Tierversuchsabteilung war soweit vom Brandherd entfernt, daß zu keiner Zeit eine Gefahr bestand und dort ganz normal weiter gearbeitet wurde.
Ähnlich gelagert war ein Gerücht, die radioaktive Strahlung des lsotopenlabors habe die Kohlen in Brand gesetzt. In jener Zeit wurde zwar viel über die Anwendungsmöglichkeiten der Kernenergie debattiert, einen sichtbaren Ausdruck fand sie aber nur in der atomaren Hochrüstung der Großmächte mit allen ihren prophezeiten Schrecken für die gesamte Menschheit.
Im Ernährungsinstitut war einige Monate vor dem Brand ein Labor für physiologische Versuche mit schwach radioaktiv markierten Substanzen eingerichtet worden. Die damit verbundenen erhöhten Sicherheitsmaßnahmen hatten in der Öffentlichkeit den Eindruck einer Explosionsgefahr des strahlenden Materials suggeriert, sie richteten sich aber nur auf den Schutz der Mitarbeiter vor Strahlenschäden und einer unkontrollierten Verschleppung in die Umwelt.
Ein Gerücht, das im Rahmen der Möglichkeiten lag, aber auch nicht den Tatsachen entsprach, war die Räumung der Klinik. Bei einer Ausweitung des Brandes wäre die Klinik in Gefahr gewesen, und verständlicher Weise mußten Vorkehrungen getroffen werden. Das Gerücht ist wahrscheinlich entstanden, weil der Mieter einer Dienstwohnung im Klinikflügel vorsichtshalber seine Wertgegenstände zu einem Bekannten im Ort gebracht hatte.
Natürlich interessierten sich die Kriminalpolizei und der Staatssicherheitsdienst für die Ursachen des Brandes. Prompt meldete die Gerüchteküche die Verhaftung des Hausmeisters und des Betriebsingenieurs. Obwohl beide für den ordnungsgemäßen Betrieb der Heizungsanlagen verantwortlich waren, stand nie die Frage einer Pflichtverletzung oder sogar einer vorsätzlichen Schuld.
Beide waren während der ganzen Dauer des Brandes vor Ort und wurden auch später nicht zur Rechenschaft gezogen. Die Ursache wurde sehr schnell gefunden. Es war eine bodenlose Schlamperei des Potsdamer Kohlenhandels. Wegen des heißen Wetters kam es bereits auf dem Transportweg nach Potsdam zur Selbstentzündung der Braunkohle. Um die Verluste so gering wie möglich zu halten, wurde die Kohle unmittelbar nach ihrer Ankunft von den Eisenbahnwaggons und den Lastkähnen auf LKW‘s geladen und an die Verbraucher ausgeliefert.
An dem juristischen Nachspiel hatte die Gerüchteküche keinen Anteil mehr. Nachdem sich der Rauch verzogen hatte, beruhigten sich die Gemüter sehr schnell. Das Ergebnis dieses Sommertheaters 1959 war auch zu enttäuschend. Wenn wenigstens die prophezeite Rattenplage eingetreten wäre.
Detlev Lexow