• Der Volksmund trifft den Nagel auf den Kopf

Der Nuthe-Bote Januar 1993

Unabhängige Monatszeitschrift / Ortsverein Bergholz-Rehbrücke e.V.


Der Volksmund trifft den Nagel auf den Kopf


Was heute dem Stadtbewohner die Straßennamen bedeuten, waren früher auf dem Lande die Flurnamen. Sie dienten der Orientierung im Ort und auf der Feldmark. Im Unterschied zur Gegenwart wurden diese Bezeichnungen aber nie offiziell festgelegt bzw. aufgehoben. Sie entstanden im Volksmund nach auffälligen Merkmalen und blieben solange gültig, bis diese durch andere verdrängt wurden. Dann entstand ein neuer Flurname, die alte Bezeichnung geriet allmählich in Vergessenheit.

In unserem durchorganisierten Alltag wäre eine solche Praxis undenkbar, und doch lebt sie weiter, auch heute entstehen im Volksmund noch Namen, die den Kampf mit den offiziellen Bezeichnungen aufnehmen und manchmal sogar gewinnen.

Dort, wo diese volkstümlichen Bezeichnungen ganze Siedlungsgebiete, Verkehrswege oder andere, die Landschaft prägende Bauwerke betreffen, kann man auch heute noch von Flurnamen sprechen, in anderen Fällen ist die Bezeichnung "volkstümliche Namen" besser angebracht.

Es gibt in Bergholz-Rehbrücke eine Reihe solcher Beispiele, von denen die interessantesten hier einmal unter die Lupe genommen werden sollen.

In Bergholz kannte man früher als Wohngebiete nur das Bauerndorf, das Büdnerdorf und die Wohnplätze an der Burgfischerei, der Rehbrücke und am Torfgraben. Bei der Entstehung der Landhauskolonie Rehbrücke sprach man anfangs nur von der "Kolonie". Das waren einige Gebäude an der heutigen Arthur-Scheunert-Allee, am Luchgraben und im Bärwinkel. Als dann auch südlich der Wilhelm-Busch-Straße der Bau begann, wurde daraus logischerweise die "Neue Kolonie". Nach dem ersten Weltkrieg entstand am Bahnhof die "Waldsiedlung". Ob diese Bezeichnung aus dem Volksmund kommt oder vom Investor gewählt wurde, ist nicht bekannt, sie wird aber heute noch gebraucht. Die in den 70-er Jahren gebaute "Hongkong-Siedlung" ist ein echter Flurname. Er spielt auf die eigenartigen Dachkonstruktionen der dort aufgestellten Fertigteilhäuser an. Mit etwas Phantasie erinnern sie an chinesische Vorbilder.

Inzwischen ist auch die "Gagfah-Siedlung" am Kriegerdenkmal ein Flurname, und gelegentlich hört man schon, wenn von den Neubauten an der Verdistraße die Rede ist, die Bezeichnung "Wilma-Siedlung".

Eine bessere Werbung können sich die Investoren eigentlich gar nicht wünschen, allerdings verbirgt sich für sie auch eine Gefahr darin: Der Volksmund ist ehrlich und rücksichtslos. Halten die Häuser auf Dauer nicht das, was man sich von ihnen verspricht, dann wird aus diesen Namen sehr schnell ein negatives Qualitätsmerkmal.

Der Architekt Martin Brinkmann versuchte ein von ihm neu erschlossenes Wohngebiet mit dem alten Bergholzer Flurnamen "Im Bergfeld" zu belegen, das ist aber nicht gelungen. Noch während der Entstehungszeit dieses Gebietes wurde die Autobahn gebaut, und seitdem wohnen die Leute dort "An der Autobahn".

Apropos "Autobahn". Diese Verbindung zwischen Berlin und dem Berliner Ring war im Grunewald ein Teilstück der "Avus"-Autorennbahn. Folglich wurde aus diesem Rehbrücke und Saarmund trennenden Teilstück der "Avus-Zubringer", ein Flurname, der mit dem Rückgang der Avusrennen an Bedeutung verlor.

Ganz in der Nähe gibt es ein weiteres Beispiel für die Treffsicherheit des Volksmundes. In den 50-er Jahren konnte die Reichsbahn nach fast 50-jähriger Bauzeit im Süden Berlins den Außenring schließen. Die Inbetriebnahme fiel etwa zusammen mit dem Start des ersten künstlichen Erdtrabanten "Sputnik". In der offiziellen Namensgebung fand dieses Ereignis im beliebt belächelten "Trabbi" als treuer Begleiter des kleinen DDR-Bürgers seine Würdigung. Der Volksmund verlieh dafür dem Berliner Außenring den Namen "Sputnik", weil er ständig um Berlin herumkreist, wie sein Pate um den Erdball. Der Name hat sich bis heute gehalten, wird in der nächsten Zeit aber wohl zurückgehen, weil die Strecke für den Personenverkehr nach Berlin nicht mehr so interessant ist wie vor der Wende.

Der Volksmund sucht immer nach kurzen, unverwechselbaren Bezeichnungen. So sind die großen Institute, obwohl sie mehrmals ihren Namen gewechselt haben und zum Teil auch fusionierten, immer die "Ernährung", die "Vitamine" und das "Getreide" geblieben.

Auch auffällige Gebäude können durch solche Namen zu einem festen Begriff werden. Wer kennt nicht das "Graue Haus" in der Mörikestraße. Wahrscheinlich war es nicht nur der graue Putz, sondern auch die “Grauzone" von Gerüchten und Spekulationen um diesen logenartigen Bau, der sich hinter einer hohen Mauer verbarg.

Die "Lokomotive" in der Weerthstraße verdankt ihren Namen dem hohen Schornstein am vorderen Giebel. Auch diese Bezeichnung geht bereits auf die Bauzeit des Hauses zurück.

Ein drittes Beispiel dieser Art ist das "Scheunert-Haus“. Professor Scheunert, der erste Direktor des Ernährungsinstituts und der Vitaminanstalt, hatte sich 1954 das Haus bauen lassen. Er starb bald nach der Fertigstellung. Später wurde es als Gästehaus des Ernährungsinstituts verwendet, bevor es zum Kindergarten umgebaut wurde. Trotzdem blieb es immer das "Scheunert-Haus".

Bei älteren Bewohnern des Ortes hat sich auch noch die Bezeichnung "Blindenheim" für das Hauptgebäude des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung erhalten. Dieses Gebäude diente von 1910- 1946 als Feierabendheim für Blinde. Die Bezeichnung "Grebesche Villa" für das Hauptgebäude der ehemaligen Vitaminanstalt ist weitgehend verschwunden.

Da die meisten öffentlichen Einrichtungen auf dem Lande meistens nur einmal vorhanden sind, können im weiteren Sinne auch sie in diese Kategorie eingeordnet werden.

Bezeichnungen, wie "An der Post", "Beim Bäcker" usw. sind eindeutige Definitionen. Sind mehrere Einrichtungen vorhanden, können auch Familiennamen eine solche Funktion übernehmen. In den 50-er Jahren deckte man in Bergholz-Rehbrücke seinen täglichen Bedarf an Nahrungsmitteln nicht beim Konsum, in der HO oder im Privatgeschäft, sondern bei Hannemann, Schmidt oder Bertram. Bei entsprechender Achtung oder Originalität der jeweiligen Inhaber können sich solche Bezeichnungen noch eine ganze Weile nach einem Wechsel erhalten.

Es mag belanglos erscheinen, diese zum Teil vergessenen Namen in Erinnerung zu bringen. Sie sind aber oft auch in die Lokalpresse, die Heimatliteratur und sogar in offizielle Schriftstücke eingegangen. Greift man, aus welchen Gründen auch immer, später auf diese Quellen zurück, dann kann es große Schwierigkeiten geben, den Ort seines Interesses genau zu lokalisieren.

Der Volksmund lebt weiter und wird sich auch in Zukunft sein eigenes Bild von der Welt schaffen, das oft treffender ist als alle amtlichen Definitionen.


Detlev Lexow

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